Die Winthirsammlung

Erschließung einer skelettalen Referenzserie

Im Jahr 2014 wurde der vor ca. 130 Jahren aufgelassene Abschnitt des Winthirfriedhofs in München aufgrund von Baumaßnahmen archäologisch ergraben. Die Untersuchungsfläche schließt an den, heute noch in Benutzung befindlichen, Friedhof der katholischen Filialkirche Mariä Himmelfahrt im Stadtteil Neuhausen an. Das ergrabene Areal gehört zu einer von 1876 bis 1927 genutzten, rund 800 qm umfassenden Osterweiterung des heutigen Friedhofs. Die Belegungsphase fällt damit überwiegend in die Prinzregentenzeit (1886 – 1912), die durch Industrialisierung und Urbanisierung gekennzeichnet war. Die Ausgrabung förderte die skeletalen Überreste von fast 300 Individuen zu Tage, die in der Staatssammlung für Anthropologie München verwahrt werden.  Die fast einmalige Besonderheit des Winthirfriedhofes ist, dass für den gegrabenen Abschnitt die Grabbücher bei der Friedhofsverwaltung vorliegen. Damit gelang es historische Daten zu 246 der dort bestatteten Individuen zu erheben. Bei einem großen Teil handelt es sich hierbei um Kinder und Jugendliche.

Winthirprojekt

In einem von der DFG finanzierten, interdisziplinären Projekt arbeiten Anthropologen, Historiker und Archäologen zusammen um dieses Skelettkollektiv als historische Quelle für diese Zeit zu nutzen und eine neue, anthropologische Referenzserie zu erschließen und international zugänglich zu machen.

Referenzserien sind in der Anthropologie dringend benötigte Skelettkollektive mit bekannten Individualdaten wie Alter und Geschlecht, die essenziell notwendig im Bereich der Methodenentwicklung sowie zur Überprüfung und Präzisierung bestehender osteologischer Verfahren sind. In Mitteleuropa mangelte es bislang an derartigen Skelettkollektiven.

In dem Projekt werden zum einen die Überreste aller Individuen standardisiert nach den Richtlinien der Staatsammlung für Anthropologie morphologisch untersucht. Dabei werden unter anderem alle Besonderheiten und pathologischen Veränderungen beschrieben und fotografisch dokumentiert. An den skelettalen Überresten konnten bisher zahlreiche pathologische Veränderungen dokumentiert werden, wie etwa Frakturen, unterschiedliche Ausprägungsformen von knöchernen Auflagerungen („Periostitis“) verschiedenster Ursache oder Mineralisationsstörungen des Zahnschmelzes. 

Zum anderen finden intensive historische Recherchen statt. So können zu fast jedem Individuum das Belegungsdatum, das Alter des Verstorbenen und sein Beruf (bei Kindern und Frauen der Beruf des Vaters bzw. des Gatten), sowie Todesursache, Kenntnisse über die Krankengeschichte oder bei Frauen die Anzahl der geborenen Kinder ermittelt werden. 

Diese Informationen werden voraussichtlich 2023 in Katalogform in der Reihe „Documenta archaeobiologiae“ in englischer Sprache publiziert werden.